Die indische Regisseurin Payal Kapadia kehrte nach drei Jahren zu den Filmfestspielen von Cannes zurück. Ihr Spielfilm, „All We Imagine as Light“, musste sich neben Beiträgen von Schwergewichten wie David Cronenberg und Francis Ford Coppola behaupten – und konnte am Ende den Grand Prix ergattern.
Payal Kapadia gehörte neben Andrea Arnold („Bird“), Coralie Fargeat („The Substance“) und Agathe Riedinger („Diamont brut“) zu den wenigen Frauen, deren Werke sich im diesjährigen Wettbewerb um die Goldene Palme befanden. Und gleichzeitig war damit auch Indiens lange Abwesenheit im offiziellen Wettbewerb aufgehoben.
Seit 30 Jahren sei das Land nicht mehr mit einem Film im Wettbewerb in Cannes gewesen, wie Govinda Van Maele, Regisseur und Produzent bei Les Films Fauves, in einem Interview mit dem „Luxemburger Wort“ betonte. Die Luxemburger Filmgesellschaft zählt zu den Koproduzenten von Payal Kapadias Spielfilm und hat damit die Rückkehr Indiens zum Wettbewerb ermöglicht. Am Mittwoch läuft die Luxemburger Koproduktion endlich in den hiesigen Kinos an.
Im Jahr 2021 wurde ihre Dokumentation „A Night of Knowing Nothing“ an der Croisette mit dem Œil d’Or für den besten Dokumentarfilmausgezeichnet. Mit „All We Imagine as Light“ hat die Regisseurin nun ein feministisches Sozialdrama geschaffen, das mit absoluter Entschleunigung ein Porträt zweier in Mumbai lebender Frauen zeichnet.
Gleichzeitig liegt der Blick auf der indischen Millionenmetropole: Stadtbilder aus der Vogelperspektive, Eindrücke der unterschiedlichen Viertel mit ihren Märkten, Essständen und Geschäften sowie Aufnahmen in der Metro und dem Krankenhaus, in dem die beiden Hauptfiguren, Prabha (Kani Kusruti) und Anu (Divya Prabha) arbeiten, schaffen den Nährboden für den filmischen Realismus Payal Kapadias.
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Poetische Entschleunigung
Prabha und Anu sind nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern sie arbeiten auch beide als Krankenschwestern in einem der Krankenhäusern Mumbais. Während Prabha verheiratet ist, ihr Mann jedoch in Deutschland lebt und der Kontakt zwischen dem Ehepaar eher inexistent ist, befindet Anu sich in einer Beziehung mit Shiaz (Hridhu Haroon). Im Gegensatz zu ihr, ist Shiaz jedoch kein Anhänger des Hinduismus, sondern Muslim – was für Komplikationen sorgt.
Von diesem Standpunkt aus zeigt der Film in besonders poetischen Bildern – diese verdichten sich, wenn Prabha und Anu mit einer gemeinsamen Freundin ans Meer reisen –, wie diese Frauen nach stärkerer Unabhängigkeit und einem besseren Leben streben. Und das gelingt Payal Kapadia auf ganz subtile Art und Weise. Die patriarchale Struktur Indiens wird deutlich, ohne dass sie direkt angesprochen wird.
Lesen Sie auch:Luxemburger Produzentin gibt Einblicke in ihre Arbeit in CannesWeder in den Dialogen noch in der Handlung scheinen dabei Geschwindigkeit und Dynamik das Credo zu sein. Das macht den rund zweistündigen Film momentweise etwas zäh, dient insbesondere aber der harmonischen Gestaltung des Werks. Der Kummer der Frauen drückt sich in ihrer Mimik und nur bedingt in ihren Aussagen aus.
Etwas Bewegung bringen hingegen die Szenen hinein, in denen die Kamera im schnellen Vorbeilaufen das Geschehen in der Stadt festhält – so als ob sie aus dem Bus oder der Straßenbahn hinaus filmen würde.
Ausbruch aus dem Patriarchat
Die Zeit am Meer kann hingegen nicht nur als Ausbruch aus dem einengenden Mumbai verstanden werden, sondern auch als Flucht aus dem bedrückenden Leben in Armut; ein Freiheitsmoment, den sich die drei Frauen teilen – bis Anus Freund plötzlich auftaucht.
Bei einem Spaziergang durch eine Grotte entdecken Anu und Shiaz aus dem Fels hervortretende Gesichter und Figuren. Als die beiden vor einem Frauengesicht Halt machen, meint Shiaz zu seiner Freundin, dass diese ihr ähneln würde. Nüchtern und trostlos stimmt Anu ihm zu und entgegnet ihm nur mit dem Adjektiv „eingeengt“. Und genau das ist es, was Payal Kapadia zeigen möchte: die Last des Patriarchats, die auf den Frauen Indiens liegt.
Indem die Regisseurin und Drehbuchautorin drei Frauen in den Blickfang nimmt, die sich nach Emanzipation sehen, und parallel dazu aber ihr Leiden unter den sozialen Strukturen Indiens zeigt, macht sie deutlich, dass in puncto Gleichberechtigung in Indien noch massiv nachgelegt werden muss. Prabha und Anu stehen hier für Millionen von Frauen.
„All We Imagine as Light“ greift mit Aspekten wie Realismus, Menschen aus der Unterschicht und die weibliche Perspektive Themen auf, die sich in vielen der diesjährigen Wettbewerbsbeiträge in Cannes wiederfinden ließen. Eine starke Rückkehr Indiens zum Wettbewerb, die man ab dieser Woche auch in Luxemburg erleben kann.
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